In der Kurzgeschichte „On the Exactitude in Science“ erzählt der argentinische Novellist Jorge Luis Borges von einem Volk aus Kartograf:innen, welches sich zum Ziel gesetzt hat, die exaktesten Karten ihres Königreiches zu erschaffen. Nach jahrelanger Arbeit nahmen diese Karten solch ein detailgetreues Ausmaß an, dass sie die tatsächlichen Dimensionen des Königreiches abbildeten. Sie bedeckten das ganze Reich und führten somit den Untergang desselbigen herbei. Das Volk scheiterte schließlich an sich selbst.
Diese Analogie veranschaulicht ein grundsätzliches Dilemma des Modellierens. Damit ein Modell in der Anwendung nützlich und praktikabel bleibt, muss es die komplexe Realität abstrahieren. Aufgrund dieser Abstraktion entfallen unweigerlich Teile der Realität. Was übrig bleibt, ist eine auf die Wünsche der Erschaffenden zugeschnittene Modellierung mit einem bestimmten Zweck – das Model Land. Aus dem gleichnamigen Buch „Escape from Model Land“ bezeichnet Erica Thompson (2022) so die Welt der mathematischen Modelle.
Was-wäre-wenn-Szenarien in digitalen Stadtzwillingen basieren auf diesen mathematischen Modellen und Simulationen und erlauben uns mit unterschiedlichen Alternativen zu experimentieren, um eine robuste Grundlage für reale Entscheidungen in der Stadtentwicklung treffen zu können. Um zu diesem Ausgangspunkt zu gelangen, begibt man sich auf eine Reise, ausgehend von einem Reale-Welt-Problem, über die Entwicklung von Model Land, wodurch hilfreiche Erkenntnisse gesammelt werden, bis hin zu einer Reale-Welt-Lösung. Doch die Gestaltung des Model Lands und der Weg zurück in die reale Welt können schnell zur Herausforderung werden. Wie sollen wir Model Land gestalten und welches Ziel wird verfolgt? Wer hat Zugriff und wer nicht? Wie werden die Erkenntnisse aus Model Land in die reale Welt transferiert? Außerdem: Welche Chancen und Risiken verbergen sich hinter dem undurchschaubaren Konstrukt namens „künstliche Intelligenz“, welches wir im Model Land antreffen?
Bei der Entwicklung, Integration und Anwendung von Modellen und Simulationen in digitalen Städtezwillingen ergeben sich somit verschiedene ethische Fragestellungen, die in jedem individuellen Modellierungsprozess ausgehandelt werden müssen. Innerhalb von drei übergeordneten Abschnitten – „Model Land betreten“, „Model Land navigieren“ und „Model Land verlassen“ – begibt sich der Leser des Ethik-Leitfadens entlang elf ratgebenden Guidelines auf die Reise eines hypothetischen Modellierungsprozesses. Hierbei werden auf Grundlage einer eingehenden Literaturrecherche aus den Bereichen Modellierung und Simulation, Wissenschaftsethik und Künstliche Intelligenz sowohl Hinweise als auch Denkanstöße aufgezeigt, wobei die Relevanz der ethischen Dimension bezüglich des Aufbaus und der Verwendung von mathematischen Modellen und Simulationen in den Fokus gestellt wird. Diese Leitlinien stellen eine Übersicht der in der wissenschaftlichen Literatur diskutierten Themen da und haben somit weder einen Anspruch auf Vollständigkeit, noch auf Allgemeingültigkeit. Sie dienen einer ersten helfenden Orientierung innerhalb eines Modellierungsprozesses, in dem jedoch jede zu treffende Entscheidung einer konkreten Einzelfallbetrachtung bedarf.
Redaktion: Rico Herzog und Viktoria Probst
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Guide to Model Land: A Guide to Ethical Questions for Modeling and Simulation in Urban Digital Twins
Ethische Grundlagen für Modellierung und Simulation
Dieser „Guide to Model Land“ wurde als Teil der transformativen experimentellen Forschung im Projekt „Connected Urban Twins“ am City Science Lab der HafenCity Universität Hamburg erstellt und beruht auf umfassenden theoretischen und praktischen Erfahrungen im Bereich Modellierung, Simulation, KI und Machine Learning.